Mitten durch die Stadt Chemnitz verläuft der recht bescheidene Brühl Boulevard. Über den Brühl führen viele Hoffnungen für die Stadt, auf dem Brühl sind schon viele Visionen gescheitert und mindestens genauso viele neu entstanden. Über den Brühl Boulevard kann man nicht schreiben, ohne den Zusatz „ehemaliger Prachtboulevard“ zu verwenden. Vor dem inneren Auge flimmern dann historienfilmreife Bilder auf: Von einer prächtigen Straße, gesäumt von mächtigen Bäumen, gefüllt mit geschäftigen Menschen und eleganten Flaneuren, wie die Croisette in Nizza oder die Champs-Élysées in Paris oder der Kurfürstendamm in Berlin, nur eben in einer mittelgroßen Stadt in Ostdeutschland.

Der Brühl ist mehr Spielstraße als Prachtstraße, aber es gibt immerhin Kirschbäume, die im Frühjahr prächtig neben sozialistischen Straßenlampen blühen. Dazwischen Ladengeschäfte, manche stehen leer, manche sind erst seit kurzem wieder mit Leben gefüllt — der Brühl ist eben die Chemnitzer Definition des „Prachtboulevard“-Begriffes. Wie jeder beliebte Boulevard hat auch der Brühl eine Attraktion, ein Wahrzeichen, aber hier steht kein Dom, kein triumphaler Torbogen, keine Siegessäule, nichts Pompöses, kein Prunk, hier stehen einfach nur sieben silberne Buchstaben: ZUHAUSE.

Dieses ZUHAUSE wird manchmal beschmiert oder verschönert, manchmal klebt jemand Sticker drauf, oft spielen Kinder daneben, manchmal sitzen Leute im U oder im H, manchmal fehlen Buchstaben, dann steht da nur noch HAUS, manchmal spielen Bands davor, immer wieder sieht man Fotos davon auf Instagram und Herzchen in den Kommentaren darunter. Niemand weiß so genau, warum es diesen Schriftzug gibt, er ist irgendwie einfach da. Zuhause ist ein Wort, ein Ort, vor allem aber ein Gefühl, mit dem man sich in Chemnitz identifiziert. In Chemnitz ist man durchaus gern draußen, man ist aber auch einfach gern zuhause. Zwar wurde man deshalb immer wieder als „Stubenhocker“ ausgelacht, hat dafür aber jahrelang für die aktuelle Notlage trainiert, denn ZUHAUSE, das steht jetzt fett und silbern über ganz Europa geschrieben. ZUHAUSE ist  nicht mehr nur ein Ort, zuhause jetzt ein Zustand. Ein Zustand der Langeweile, ein Zustand der Krise, ein Zustand der Verzweiflung, ein Zustand der Besinnung, ein Zustand der Einsamkeit oder einer der Gemeinsamkeit, ein privilegierter Zustand.

Der öffentliche Raum hat sich weitestgehend ins Private zurückgezogen: Zuhause ist jetzt das Büro, das Fitnessstudio, die Schule, der Spielplatz, die Kneipe, der Konzertsaal, der Club. Drei Zimmer, Tanzfläche, Bad. Dabei wird Zuhause nicht mehr nur über die eigenen vier Wände definiert, sondern auch über die eignen vier Monitore. Es gibt eine neue Dimension im Öffentlichen Raum, nämlich die Pixel auf den Computer- und Handydisplays, die ins Virtuelle übersetzen, was das Real Life gerade verpasst. Die Clubnacht wird zum Fernsehformat, das Feierabendbier wird zum Videochat. Das ist zeitgleich tröstlich und traurig. Denn egal wie kreativ der Ansatz ist, er  scheint immer nur die halbe Lösung zu sein. Denn es macht einen gewaltigen Unterschied, ob man gemeinsam mit Freunden im selben Raum eskaliert oder zuhause semi-einsame Selbstgespräche führt. Kultur ist körperlich, Kultur entsteht durch das gemeinsame Erleben, Kultur ist kein Akt der Vereinzelung, und eigentlich genau das Gegenteil von Vereinsamung. In der Isolation kann sie ihre Gemeinschaft stiftende Kraft nur wenig entfalten, bleibt symbolisch — und das ist tragisch.

Was aber macht eigentlich Chemnitz, die Stadt, in der ZUHAUSE sein so wichtig ist, dass sie es sich in Großbuchstaben auf ihren einzigen Boulevard stellt? Man bleibt pragmatisch, man bleibt ruhig, man arrangiert sich artig mit der Situation, man sitzt die Sache bisher recht geduldig aus, man schließt sich zusammen, man hat hier schließlich schon einiges durch. Und: Chemnitz geht  plötzlich ziemlich viel raus, gefühlt mehr als sonst. Die Radwege sind voll, die Parks sind voll, Menschen sitzen auf den Bänken, lesen Bücher, halten diszipliniert Abstand. Am vollsten aber ist  es auf dem Brühl Boulevard, obwohl der eigentlich auch gerne mal leer ist. ZUHAUSE ist jetzt richtig viel los.

Die Autorin: Johanna Eisner wurde 1988 in Reichenbach/Vogtland geboren. Im Jahr 2007 zog sie nach Chemnitz, um dort Medien- & Kommunikationswissenschaften zu studieren, was mehr ein Kompromiss als ein Glücksgefühl war. Heute lebt sie immer noch in der Stadt und findet das eigentlich ganz in Ordnung so. Während ihres Studiums verbrachte sie mehr Zeit im Uni-Radio als im Seminarraum. Dort leitete sie die fünf Jahre lang die Musikredaktion, weil sie früher immer unbedingt Musikjournalistin, Modedesignerin, Kinderbuchautorin, Gitarristin und berühmt werden wollte, am besten alles gleichzeitig. Das hat aber nicht ganz geklappt: Heute arbeitet sie als Texterin und Konzeptionerin in der Werbewelt und schreibt als freie Kulturjournalistin für die Chemnitzer Tageszeitung „Freie Presse“, Stadtmagazine und andere städtische Projekte.

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