Zahlreiche deutsche Städte bewerben sich um den Titel Europäische Kulturhauptstadt  2025. Das setzt einen Prozess in Gang, der Strukturen, Denkweisen und Handlungen verändern wird. Dies alles soll neue Impulse in die Stadt bringen, Potenzial freilegen und zu neuen Initiativen inspirieren.

Kürzlich trafen sich in Chemnitz Kulturexperten aus verschiedenen europäischen Ländern zur Tagung »STAT(D)T Kultur: Chemnitz 2025«. Sie diskutierten über die Chancen und Perspektiven einer solchen Bewerbung. Unter den Teilnehmern war Oliver Scheytt. Von 2006 bis 2012 war er Geschäftsführer der Ruhr.2010 und gründete danach die KULTUREXPERTEN GmbH. Ein Gespräch über die Herausforderungen kommunaler Kulturstrategien im Zuge der Bewerbung

1988 West-Berlin. 1999 Weimar. 2010 Essen.  Und 2025?

Vor 30 Jahren war Europa noch geteilt. West-Berlin war in einer Insel-Lage. Mit Weimar und der Weimarer Klassik wurde europäische Geistesgeschichte lebendig gemacht. RUHR.2010 steht für den Wandel von der Industrie- in die Kulturgesellschaft, in einer Zeit, in der Europa sich mit der Ausweitung der EU recht stark und sicher fühlte. Doch die europäische Lage ist brennender denn je: Wo und wie ziehen wir Grenzen? Was macht uns aus? Wie lösen wir die Konflikte zwischen Nationalität und Sprachen? Wie gehen wir mit den Migrationsströmen um? Welche Rolle spielen die Supermächte? Wie entwickelt sich unsere Gesellschaft angesichts der Digitalisierung und des um sich greifenden mentalen Kapitalismus? Diese Fragen werden bis 2025 nicht zu beantworten sein, wir müssen allerdings nach Antworten suchen unter ganz anderen Bedingungen als in den letzten drei Jahrzehnten.

Sie waren Anfang November in Chemnitz. Wie war Ihr Eindruck?

Ich war schon sehr oft in Chemnitz seit 1990. Die Stadt hat sich rasant entwickelt. Das haben viele außerhalb aber noch nicht so wahrgenommen. Es ist eine Aufbruchsstimmung zu spüren, doch auch eine gewisse Ruhe und Gelassenheit. Das gefällt mir.

Die deutschen Bewerberstädte sind ganz unterschiedlich. Sie sind ganz unterschiedlich groß. Manche sind weltberühmt und haben ein unverwechselbares Stadtbild, andere sind hingegen unscheinbar. Was macht die deutsche Kulturhauptstadt im Jahr 2025 aus?

Jede Stadt kann europäische Geschichte erzählen mit und ohne eine ausgeprägten Skyline. Jede der Bewerberstädte setzt sich mit den (Kultur-) Bauten, der gelebten Kultur und der erzählten Stadtgeschichte auseinander. Das ist das Spannende im Bewerbungsprozess: die vier Dimensionen der gebauten, organisierten, gelebten und kommunizierten Stadt zu reflektieren. Alle Bewerber-Städte haben hier große Unterschiede. Das Wechselspiel zwischen Image und Identität spielt gerade im Kulturhauptstadtprozess eine ganz entscheidende Rolle. Ich bin sehr gespannt, wie im weiteren Bewerbungsprozess, der in Chemnitz ja sehr gut angelaufen ist, die Fragen formuliert werden. Denn es kann nicht darum gehen, auf alles bereits Antworten zu haben, viel mehr ist der Fragen-Katalog, der der Jury vorgelegt wird so angelegt, dass im Bewerbungsprozess und mit der Kulturhauptstadt ein Großprojekt zur »Selbstreflexion« der jeweiligen Stadt geplant werden kann. Wer dieses Großprojekt am besten anlegt, wird am Ende von der Jury ausgewählt.

Sie haben Essen zum Erfolg geführt. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Essen und Chemnitz? Oder muss jede Stadt ihren ganz eigenen Ansatz entwickeln.

Essen und Chemnitz hatten bzw. haben ein Image, dass der Identität nicht entspricht. Ich bin gespannt wie Chemnitz mit diesem Spannungsfeld umgeht. Auch unabhängig vom Titelgewinn kann der Bewerbungsprozess für diese Herausforderung positive Wirkungen haben.

Der Chemnitzer ist von Natur aus eher zurückhaltend und lässt sich nicht sofort für Neues begeistern. Wie schafft man es, die Bürger einer Stadt mitzunehmen auf dem Weg zur Kulturhauptstadt?

Der Prozess ist nach meinem Eindruck sehr gut angelaufen auch unter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Die Veranstaltungen stoßen auf eine große Aufmerksamkeit, dass konnte ich auch im November unmittelbar erleben. Wichtig ist, dass die Stadtspitze hinter der Bewerbung steht, die Kulturakteure sich  mit ihren Potentialen einbringen und so auch die Bürgerschaft nach und nach aufmerksam wird. Je mehr sich der Wettkampf in Deutschland zuspitzt, umso spannender wird es auch für die Öffentlichkeit  in den beteiligten Städten.

Bei Ihrem Vortrag zur Eröffnung der Kulturhauptstadt-Tagung in Chemnitz sprachen Sie davon, dass man weniger Leuchttürme brauche, dafür mehr Lagerfeuer. Was kann man sich darunter vorstellen?

Ich habe diese beiden Begriffe gegeneinandergesetzt, um deutlich zu machen, dass eine Stadt nicht deshalb gewinnt, weil sie spektakuläre neue Kulturbauten errichtet. Viel mehr ist der Austausch untereinander gerade auch mit Blick auf die europäische Frage und die Identität sehr wichtig. Wer kann sich nicht an schöne Reisen in seiner Jungend in andere europäische Städte und Regionen erinnern, an denen am Lagerfeuer unterschiedliche Sprachen und Kulturen zusammentrafen, vielleicht gemeinsame Lieder gesungen wurden und man emotional mitgenommen wurde von der Gemeinschaft die dort entstanden ist. Solche Momente zu schaffen ist eine schöne Aufgabe für jedes Kulturhauptstadt-Team.

Europa muss man wieder stärker ins Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger rücken: Kann eine Kulturhauptstadt auch tatsächlich die Wahrnehmung für die europäische Idee schärfen?

Die Verbindung von Chemnitz in andere Städte Europas ist uns oft nicht bewusst: Denken Sie nur an  Reisen von den Chemnitzerinnen und Chemnitzern, an die Wirtschaftsbeziehungen, den kulturellen Austausch der Institutionen wie der Kunstsammlung Chemnitz, dem Theater etc. Uns ist es in Europa gelungen, mehr als sieben Jahrzehnte Frieden zu stiften, sprachliche und kulturelle Vielfalt zu organisieren und friedlich zusammen zu leben. Wir erleben doch heute mehr als noch vor zehn oder 20 Jahren, wie sehr diese Errungenschaft in Gefahr gerät. Umso wichtiger ist es das Bewusstsein für diese große kulturelle Leistung zu schaffen.

Funktionieren Kulturhauptstädte der 2020er Jahre oder neue kulturelle Infrastrukturprojekte, v.a. wenn man sieht, welche Impulse beispielsweise eine Elbphilharmonie für Hamburg mit sich bringt?

Die Jury entscheidet nicht danach, wer die schönste Kulturimmobilie errichtet. Entscheidend ist, ob die Kulturstrategie die von jedem Kulturhauptstadt-Bewerber vorzulegen ist, intelligente Lösungen für die kulturelle Infrastruktur beinhaltet, die auf die zukünftigen Herausforderungen der Globalisierung, Medialisierung, Digitalisierung eingeht.

Eine abschließende Frage: Wen muss Chemnitz überzeugen? Die 10-köpfige Jury oder die Bürgerinnen und Bürger?

Beide Gruppen, wobei die Reihenfolge klar ist: Der Jury müsste glaubwürdig dargestellt werden können, dass Bürgerinnen und Bürger in Chemnitz hinter der Bewerbung stehen und wie sie künftig mit dem Programm angesprochen und in dieses einbezogen werden sollen. Letztlich fragt die Jury nicht nur danach, ob die jeweilige Stadt den Titel braucht, weil damit auch dauerhaft wirksame Effekte erzielt werden.
Die Jury fragt auch danach, ob eine Stadt den Titel verdient, ob also ein gewisses Maß an Unterstützung und Begeisterung bei den Kulturschaffenden, der Politik, der Wirtschaft und der Bürgerschaft vorhanden ist. Wenn das nicht »rüberkommt« bei der Präsentation im Jahr 2020, wird die Stadt Chemnitz die Jury kaum überzeugen können.

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